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Corona

   Liebe Lust und Leidenschaft in den Zeiten von Corona und anderen Krisen ...

Inhaltsverzeichnis

Dieter Drechsler Der Fensterplatz 03.Mai.2021
Maggy Ziegler Küssen verboten 02.Mai.2021
Michael Blum Julietta 01.Mai.2021
Elena Ratzlaff Eigenliebe 31.Mai.2020
Frieder Döring Jahresanfang 12.Mai.2020
Dieter Drechsler Der Avatar 22.Mai.2020
Hedwig Bäte Glück ist 18.Mai.2020
Michael Blum Liebesunglück 16.Mai.2021
Frieder Döring Das Wasserbett 12.Mai.2020
Elena Ratzlaff Erlesen 06.Mai.2020
Dieter Drechsler Datingportal 04.Mai.2020
Michael Blum Muttermal 2.Mai.2020
Frieder Döring Als uns die Mondin 2.Mai.2020
Michael Blum Der Liebesrausch 2.Mai.2020




Der Fensterplatz

»Mist, jetzt ist mein Bein eingeschlafen!«, ärgert sich Corinna und bewegt es, soweit es der Abfalleimer unter dem Tisch zulässt. »Kein Wunder! Seit über einer Stunde hocke ich, wie ein hypnotisiertes Kaninchen, eingepfercht in einem angeblichen Großraumwagen auf diesem Fensterplatz.« Missmutig sieht sie sich um. Rechts von ihr sitzt machohaft ein verfetteter Anzugträger, der rigoros eine weit ausgebreitete Zeitung liest und bei jedem Umblättern sein billiges Aftershave verbreitet.
Gegenüber er!
Er war ihr schon aufgefallen, als sie sich mit der Reisetasche durch den schmalen Mittelgang des Waggons schob. Bereits da hatte sie der kurze Blickkontakt mit ihm derartig fasziniert, dass sie prompt ihre Platznummer vergaß.
Diese blöde Nummer, die sie beim Einstieg in Hannover, um die Hände frei zu haben, wie ein Mantra vor sich hingemurmelt hatte. Also nochmal in der Jackentasche nach dem Ticket gefischt, während die Rollkoffer-Karawane in ihrem Rücken sie gnadenlos vorwärtsschob.
Ach ja, Wagen 8, Platznummer 61 …
 Ihre Augen scannten die Schildchen über den Sitzplätzen ab.
Ah, da! Nummer 61, ein Fensterplatz mit Tisch.
Ausgerechnet den. Diesen durch den Tisch eingeengten Platz hätte sie selbst nie und nimmer reserviert! Den hatte sie ihrer Tante zu verdanken, die ihr diese Reise gebucht und geschenkt hatte. »Ist doch praktisch, da kannst du schön dein Butterbrot auspacken und dein Buch ablegen.« Nun sitzt sie seit über eine Stunde, zwischen Tisch und Anzugträger einklemmt, ihm gegenüber, - und könnte ihn dauernd angucken!
Das heißt, wenn sie sich trauen würde, endlich mal von ihrem Buch aufzuschauen oder ein Gespräch zu beginnen.
Das heißt, einmal hat sie was gesagt. Gleich zu Anfang, da hatte sie ihr Ticket in die Runde gehalten und »Nummer 61 – ist das hier?«, gepiepst, weil ihr die Stimme plötzlich versagte. Als müsste sie ihm gegenüber ihren Anspruch auf den Platz nachweisen. Nach dieser Erfahrung zog sie es vor, in der Versenkung ihres Fensterplatzes zu verschwinden.
Denn ihr wurde es bewusst, dass sie in Gegenwart von ihm, wohl keinen zusammenhängenden Satz mehr wird herausbringen können, und das ihr Charme und Witz hier kurz vor Bielefeld ferner sind, als das Matterhorn.
Abgesehen davon, dass er nicht alleine ist!
Corinnas Blick gleitet dezent zu dem Mädchen rüber, deren Kopf mit den langen blonden Haaren an seiner Schulter lehnt.
Seine Freundin, klar, analysiert sie die Situation.
Ihr Atem geht ganz ruhig, nicht mal ihre Wimpern flattern. Sie schläft tief und entspannt. Und das schon die ganze Zeit, trotz des Geräuschpegels hier!
»Bestimmt sind die beiden schon lange zusammen«, überlegt Corinna einen Moment lang wehmütig, »denn, wenn man sich erst eine kurze Zeit kennt, schläft man doch nicht neben so einem Geschöpf ein. Dazu ist seine körperliche Nähe doch viel zu aufregend und zu kribbelig.
Da will man alles von ihm wissen, und alles über sich selbst er zählen, - jede noch so kleine geheime Geschichte. Wie der eigene Vater beim Kirschkern-Weitspucken einmal fast erstickt ist, wie die beste Freundin vom Tennislehrer gestresst wurde, wie die kleine Schwester beinahe ertrunken wäre. Besonders gern erzählt man natürlich Geschichten, in denen man selbst eine positive Rolle spielt: Dem Vater knallhart auf den Rücken gehauen, dass der Kirschkern nur so raus flutschte, dem miesen Lehrer vor versammelter Mannschaft die Meinung gegeigt und die kleine Schwester tapfer den Fluten entrissen.«
»Jedenfalls schläft man in dieser Phase neben so einem Geschöpf nicht ein!«, stellt Corinna kritisch fest. - Denn sie hätte viel zu viel Angst, dass sie dabei vielleicht schnarcht oder etwa mit halb offenem Mund einen wenig intelligenten Eindruck macht.
»Solche Ängste hat seine Freundin offensichtlich nicht. Braucht sie ja auch nicht«, sinniert sie anerkennend weiter, »und sieht im Schlaf wie ein Engel aus.«
Mit halb geschlossenen Lidern, über den Buchrand hinweg, betrachtet Corinna die Beiden weiter. »Die passen super zusammen! Ein Paar wie aus einem Werbespot. Er, - souverän in sich ruhend, liest in seinem Buch. - Leider kann ich den Titel nicht entziffern. Bestimmt irgendwas Trendiges oder Barack Obamas neueste Veröffentlichung im englischen Original. - Und wie er hin und wieder scheinbar selbstvergessen seine dunklen Locken nach hinten streicht. - Um danach nur noch verwuschelter auszusehen. – Logo - , natürlich weiß er genau, wie das wirkt.«
»Leider!«, seufzt Corinna unhörbar und erstarrt. Denn er schaut plötzlich von seiner Lektüre auf, sieht sie direkt an und ihr blieb keine Zeit mehr wegzusehen.
Corinna spürt, wie sich ihr Puls beschleunigt.
»Himmel, was hat er für Augen! Grün, mit kleinen braunen Sprengseln - und jetzt lächelt er. - Oh, Grübchen hat er auch! - Ist ja nicht auszuhalten! Echt, bei Grübchen werde ich schwach. - Sollte ich jetzt nicht irgendetwas sagen? Ich meine, irgendetwas Nettes oder echt Spritziges?«
Stattdessen fühlt sie Panik in sich aufsteigen und schaut, um ihre Verlegenheit zu verbergen, nach draußen.
Gelassen senkt ihr Gegenüber wieder den Kopf und blättert in seinem Buch. Dabei bewegt er sich ganz behutsam, um den schlafenden Engel an seiner Seite nicht zu stören.
»Rücksichtsvoll ist er also auch noch«, stellt Corinna fasziniert fest. »Unglaublich. Andere Typen würden sich in einer solchen Situation ihre AirPods in die Ohren bohren und die Braut mit Hardrock beschallen. Ob’s ihr nun passt oder nicht. - Wohin die beiden wohl fahren? Bestimmt zu einer schicken Vernissage oder vielleicht sogar zu einer Hochzeit, nach Köln oder Düsseldorf. Und ganz bestimmt nicht zu einer Tante nach Bonn-Limperich, wie ich. - Das Leben ist ungerecht. - Wo sind wir eigentlich?«
Corinna späht durch die getönten Scheiben nach draußen und versucht sich zu orientieren. Denn ihr Nachbar, der Anzugträger, war in Essen ausgestiegen und die Computerstimme aus dem Lautsprecher hatte eben erst den nächsten Bahnhof angekündigt, da quietschen bereits wieder die Bremsen. Ein Schild mit der Aufschrift »Duisburg« huscht am Fenster vorbei und auf dem Bahnsteig drängen sich die Leute in Richtung der Türen.
»Au Kacke!« Wie von der Tarantel gestochen, schießt die Blonde von gegenüber urplötzlich von ihrem Sitz hoch, greift ihre Klamotten und stürmt grußlos den Gang runter.
Er blickt nur kurz von seinem Buch auf.
Corinna versteht überhaupt nichts mehr. »Wieso bleibt er denn seelenruhig sitzen? Bin ich im falschen Film oder was?«
Anscheinend macht sie ein derart konsterniertes Gesicht, dass ihr Gegenüber Mitleid mit ihr be-kommt und erklärt. »Ich kannte sie gar nicht.«
»Hä?«, krächzt Corinna verständnislos und fragt sich, wann sie je wieder einen normalen Satz ausformulieren kann.
»Das Mädchen«, fügt er erklärend hinzu, »die Blonde, die hier ... äh ... geschlafen hat.« Er zeigt auf seine linke Schulter, als gab es im Zug noch hundert andere schlafende Blondinen, die gemeint sein könnten. »Sie hat mir beim Einsteigen in Berlin nur noch kurz gesagt, dass sie die letzte Nacht durchgemacht hat, und dann war sie auch schon eingepennt.«
»Ach so«, lächelt Corinna irgendwie befreit. »Ist ja schräg ...«, und atmet erleichtert durch, denn das war immerhin ein fehlerfreier Halbsatz.
Ihr Gegenüber klappt sein Buch zu und lächelt Corinna an. »Ich fahr nach Bonn, und du?«
Corinna spürt, wie ihr Puls neue Grenzwerte erreicht, und braucht eine Sekunde, um ihm antworten zu können. »Äh-«, sie stockt, um dann schnell, »ich auch!«, hinzuzufügen.





Küssen verboten

Verena saß mit gesenktem Kopf auf dem Beifahrersitz. Der klassische Fall! So dermaßen klischeehaft, dass sie über sich selbst lachen musste und es doch nicht so wirklich konnte. Aber es war genauso, wie in 50 Prozent der üblichen Fernsehkriminalfälle beschrieben…. Warum waren so viele Männer auch heute noch genauso anfällig dafür, sich in ihren Job zu vergraben, wie in den 60ziger Jahren? Nahmen die meisten noch immer nach ein paar Jahren ihre Ehefrauen nicht mehr so richtig wahr?
Gestern Morgen noch hatte Verena versucht, Matthias für einen Konzertbesuch zu motivieren. Vor 20 Jahren geschah das öfters, da galt ‚ins Konzert gehen‘ als etwas Schönes, als etwas, das man unter ‚erstrebenswert‘ verbuchte. Einen Campari in der Pause trinken, das neue Abendkleid ausführen oder auch gerne mal das alte...
Letzten Samstag war sie alleine zu der Galerie gefahren, die Einladung zur Vernissage hatte verlockend ausgesehen. In die Sauna hatte Matthias sie begleitet, aber einen gemeinsamen Besuch des orientalischen Hamam, mit Massage und Schlammpackung als ‚übertrieben‘ abgeschmettert. Verena saß da und im Geiste wurde die Liste in Minutenschnelle immer länger.
 Frederics Hände lagen lässig auf dem Lederlenkrad, er schaute aus dem Wagenfenster, so als wollte er den Porsche auf dem Parkplatz neben ihm bewundern, aber seine Frage hing laut und deutlich unter dem Dach des großen SUV. Verena schwieg. Frederic umwarb sie seit Wochen, hier eine Andeutung, da ein Glas Sekt, hier ein paar Schritte gemeinsam in der Stadt, der Amarena-Kirsch-Eisbecher, die weiße Rose…
„Männer wollen nur das Eine!“ so brach es mit leisem Groll aus Verena heraus. Frederic zuckte die Schultern und sah sie lächelnd an: „Ist das so schlimm?“ Diese Dreistigkeit brachte Verena zum Lachen: „Und was sagt deine Frau dazu?“ Frederics Schultern zuckten wieder: „Sie ist gestern Abend zur Vorsitzen-den in ihrem Karnevalsverein gewählt worden. Sie schien sehr glücklich und stolz.“ Dieses Klischeehafte wurde ja immer schlimmer, dachte Verena.
„Frederic, das ist doch Blödsinn, wir können weder zu mir noch zu dir und kein Hotel wird uns ein Zimmer geben in dieser bekloppten Zeit. Herr je, wir sind doch keine 18 mehr, von wegen „Liebe auf’m Rücksitz im Mondenschein“, und außerdem ist das der Wahnsinn! Ich sollte hier mit Maske sitzen auf 1,5 m Abstand – klar, dein Wagen ist groß, aber so groß nun auch wieder nicht! Ich bitte Dich, wir sind zu alt für dieses Spiel, dieses Klischee sollten wir doch nun wirklich nicht bedienen!“
Ein drittes Mal zuckten seine Schultern: „Warum denn nicht, dieses Gefühl ist so alt wie diese Welt und es war noch nie tot zu kriegen. Die Rücksitze sind bequem und geheizt….“ Verena konnte das Lachen nicht mehr bremsen: „Eigentlich müsstest du schon allein wegen dieser Ehrlichkeit bestraft oder belohnt werden.
Eigentlich sollte ich meine Maske aufsetzen und entrüstet dieses Fahrzeug verlassen. Eigentlich - eigentlich – komisch – ich habe keine Angst davor, mit dir zu schlafen, aber Angst deinen frechen Mund zu küssen. Tja, als ich 18 war, da war anscheinend eine ganze Menge irgendwie doch ganz anders…“





Julietta

Eine knappe Woche hatte er mit Julietta verbringen dürfen. Zumindest gedanklich, weil eigentlich waren es nur zwei Tage gewesen. Sie war in sein Leben gerauscht, hatte es einmal durchgerüttelt und war dann genauso unvermittelt von der Bildfläche verschwunden, wie sie aufgetaucht war.
Sie hatten sich ziemlich genau zehn Jahre nicht gesehen, mit dem Tag der Abiturfeier hatte er sie damals aus den Augen verloren; fürs Studium war man in eine andere Stadt gezogen, ein neuer Lebensabschnitt hatte sich angekündigt.
Als Schülerin hatte Julietta es stets verstanden, sich in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken; wegen ihres ausgesprochen selbstbewussten Verhaltens war auch die Rolle der Klassensprecherin wie für sie gemacht. Sie hatte in der Klasse zu den Hübschen gezählt; schlank, um die Einsachzig, langes schwarzgelocktes Haar, welches bei Sonnenschein leicht rötliche schimmerte. Und gutaussehende Menschen hatten es ja bekanntlich etwas leichter im Leben, verkörperten sie doch die Sehnsüchte der anderen.
Er hatte sich während der gemeinsamen Schulzeit – zuerst in einer gemeinsamen Klasse, später dann durch das Kurssystem verteilt – nicht getraut, sich bis zu ihr durchzuarbeiten, gab es doch stets eine Vielzahl von Bewunderern, die sich um Julietta scharten. Er hatte nicht in diesen Wettbewerb um ihre Gunst einsteigen und sie lieber aus der Distanz beobachten wollen – so hatte ihm zumindest sein Verstand seine Zurückhaltung begründet. Ein anderer Teil von ihm hatte dieses Verhalten ganz unverblümt als Ausdruck seiner Schüchternheit bezeichnet.

Und letzten Samstag hatte sie plötzlich hinter ihm gestanden – in der Kinoschlange. Sie habe ihn, so sagte sie, sofort erkannt; was auch nicht schwer gewesen sei, habe er sich doch kaum verändert in all den Jahren. Er hingegen hatte etwas gebraucht, in ihr die Julietta von damals zu erkennen. Sofort hatte er seine alte Unsicherheit gespürt und sich gefragt, ob er ihre Begrüßung „Du hast dich gar nicht verändert“ als Kompliment auffassen sollte, zumal er sich seinerzeit in der Oberstufe eher zu den Außenseitern gezählt und das Ende der Schulzeit für einen möglichen Neustart herbeigesehnt hatte.
Julietta hingegen hatte sich sehr wohl verändert; sie trug ihr Haar um einiges kürzer, sie schien dünner geworden, was ihre sehr weibliche Figur aber nicht schmälerte; sie wirkte in ihrem Äußeren nicht ganz so perfekt durchkomponiert wie früher, eher etwas ‚vintage‘, wie man so sagt; zu einer schwarzen Bikerjacke trug sie ein einfaches weißes Shirt, welches über der Gürtelschnalle locker in ihre Jeans gesteckt war, dazu etwas abgetragene, ehemals weiße Sneaker; es gab erste Gebrauchsspuren in ihrem Gesicht, insbesondere um die stark geschminkten Augen herum; all das änderte allerdings nichts daran, dass Julietta eine beindruckende Präsenz an den Tag legte.
Er war schon immer gerne allein ins Kino gegangen, auch um den Film ganz für sich zu haben; er hasste es, dieses Erlebnis mit Menschen zu teilen, die glaubten im Nachgang alles kommentieren, bewerten und erklären zu müssen, wie wenn sie sich über den Film und seinen Regisseur erheben wollten. Nach dem Film trank er gerne ganz für sich noch ein Glas Rotwein, um das Erlebte auf sich wirken zu lassen; und dabei konnte er keine selbsternannten Filmkritiker in seiner Nähe ertragen.
„Hey Martin, was ist das denn für ein Zufall?! Allein hier?“
Martin wusste nicht recht, wie er sich verhalten sollte, fühlte sich wie gelähmt. Julietta nahm ihm jedoch sofort die Entscheidung ab, indem sie ihn ziemlich euphorisch umarmte. Seine Muskulatur spannte sich sofort an, wie bei einem spontanen Abwehrreflex in einer bedrohlichen Situation. Nie zuvor war er Julietta so nahe gekommen; mit einem Mal war er nicht mehr außenstehender Zuschauer sondern selbst Akteur – fast war ihm, als wenn Julietta, der Star des Abends, ihn auf eine Bühne geholt hätte und da fühlte man sich ja anfangs auch eher ungelenk und hölzern.
„Hey Julietta, wie lang ist das jetzt bloß her?!“ Er hatte sich unauffällig umgeschaut; auch Julietta schien ohne Begleitung zu sein. In Gedanken sah er sich bereits nach dem Film mit Julietta plaudern, beide nippten an ihrem Wein und tauschten sich über ihre Schulzeit aus, um dann sehr schnell über das zu reden, was in der Zwischenzeit alles passiert war.
„Ist ja witzig, dass wir beide ausgerechnet in diesen Film wollen…“
Martin wusste zunächst nicht, was Julietta meinte; er hatte sich nicht den Titel des Films gemerkt sondern nur abgespeichert, dass es sich um die aktuelle Verfilmung eines Romans von Nick Hornby handelte; er schätzte diesen Autor wegen seiner Fähigkeit, Humor mit Tiefgang zu kombinieren. Der Filmtitel setzte ihrem Zusammentreffen allerdings das Krönchen auf: ‚Juliet, naked‘. Das Buch hatte ihm trotz einer reichlichen Portion Kitsch gut gefallen, weil es am Ende dazu aufforderte, das Neue zu wagen und das Leben mit seinen Möglichkeiten zu nutzen, statt nur anderen beim Leben zuzuschauen.
„Wie könnte ich nicht in einen Film gehen, der meinen Namen in seinem Titel führt!“ hatte sie angefügt. Jetzt erinnerte er sich auch, dass Julietta ihren Namen nie so ganz gemocht hatte, und sich selbst immer wieder mal anders nannte – einfach nur July, Julia, Juliet oder auch Giulietta, die italienische Variante.
Sie hatten sich einen Wein mit in den Kinosaal genommen und sich vor Filmbeginn noch ein wenig austauschen können, selbstverständlich mit gedämpften Stimmen. So hatte er erfahren, dass sie seit einem Jahr in der Stadt war, eine eigene kleine Wohnung besaß und in einer physiotherapeutischen Praxis arbeitete, aber noch nicht wisse wie lange sie das noch machen wolle. Martin hatte nur kurz über sich erzählt, dass er mit zwei Freunden vor einigen Jahren eine gut laufende Agentur für Graphik-Design gegründet hatte, dass er seit zwei Jahren eine Wohnung in der Innenstadt besaß.
Das Flüstern mit Julietta hatte Martin gefallen, eine unverbindliche aber wunderbare Form der Nähe.
Im Anschluss an den Film waren sie dann wie selbstverständlich noch einen Wein trinken gegangen und dabei hatte keiner den anderen gefragt, ob man noch etwas zusammen unternehmen wolle. Martin war zusehends entspannter und auch gesprächiger geworden; im Fluss des Erzählens hatten sich immer wieder ihre Hände berührt und er hatte gespürt, wie die alte Sehnsucht in ihm aufkeimte. Es war auch nicht bei einem Glas geblieben.
Nach Mitternacht in seiner Wohnung angekommen, war er selbst begeistert von seiner Idee, Julietta den Wein öffnen zu lassen und sich um die Musik zu kümmern. Er hatte in seinen Platten nur kurz suchen müssen, und das, obwohl das Vinyl nicht sortiert war. Es war ein Doppelalbum, das weiße Album der Beatles, die letzte Nummer auf der A-Seite der ersten Platte; das Stück hieß ‚Julia‘.
Julietta war begeistert und schmiss sich ihm förmlich in die Arme, drückte ihn, dass ihm zunächst die Luft weg blieb, löste sich dann ein wenig von ihm, schaute ihm in die Augen, nahm seinen Kopf in beide Hände und sagte: „Mein Song! Wow! Danke!“ Ihre Lippen näherten sich den seinen und sie begann ihn sanft zu küssen; als die Beatles nach knapp drei Minuten fertig waren mit ‚Julia‘ und der Arm des Plattenspielers abgehoben hatte, sagte Julietta nur „Ich will mehr davon.“ Und es war Martin klar, dass sie nicht nur die Musik meinte. Sein Herzschlag schien sich auf das doppelte Tempo zu beschleunigen. Er bat Sie um einen kurzen Augenblick Geduld, sie könne ja derweil die Gläser füllen; er suchte also seine CD vom ‚White Album‘ heraus und programmierte die Abfolge der Musikstücke:
 - Julia - While my guitar gently weeps
 - Happiness is a warm gun
 - Julia
 - Why don’t we do it in the road?
 - I will
 - Julia
 - Yer blues
 - Sexy Sadie
 - Julia
 - Helter Skelter
 - Long, long, long
 - Julia
 - Revolution No 1
 - Cry baby cry
 - Julia
Er hatte die Repeat-Funktion aktiviert und dann auf Start gedrückt. Julietta hatte es sich derweil auf dem Sofa bequem gemacht; mit einer einladenden Geste bat sie ihn, sich zu ihr zu setzen. Das gute Gefühl, die richtige Musik ausgewählt zu haben, machte es ihm leicht, nun selbst die Initiative zu ergreifen. Martin stupste Julietta leicht an, so dass ihr nichts anderes übrigblieb, als in eine leicht liegende Position zu fallen; Martin beugte sich über sie und strich ihr das Haar hinter die Ohren.
„Wer hätte das gedacht. Du hier, bei mir. Hätte ich mir damals nicht einmal in meinen kühnsten Träumen vorstellen können.“
Julia lächelte. „Du hast auch immer so unnahbar gewirkt, wie ein abgehobenes Geistwesen, zu dem man einen Mindestabstand von zwei Metern halten musste. Ich habe dich für ziemlich arrogant gehalten. Die anderen Jungs waren da zugänglicher, manchmal sogar ein wenig aufdringlich, ganz anders als du.“
Martin runzelte die Stirn. „Ich dachte, du interessierst dich sowieso nur für die Macker mit den Mofas oder später dann für die mit dem Golf GTI von Papa.“
Julietta seufzte. „Das war auch so. Die haben`s mir ja auch denkbar leicht gemacht. Mit denen konnte man so in den Tag rein leben, ohne überhaupt über irgendwas nachdenken zu müssen. Wer permanent begehrt wird und im Mittelpunkt steht, der muss schließlich nicht überlegen, was er selbst eigentlich will, vom Leben und überhaupt. Und ich war wahrlich kein Kind von Traurigkeit – und irgendwann brauchst du das dann auch, ständig von anderen umschwärmt zu werden. Damit bin ich dann später auch ganz schön auf die Schnauze gefallen. Aber das ist vorbei. Und jetzt bin ich hier.“
‚Happiness is a warm gun’ war gerade verklungen, als Julietta sich von ihm befreite, um die Weingläser erneut aufzufüllen. Sie reichte Martin sein Glas. „Auf die Jugend und darauf, dass sie vorbei ist und wir endlich erwachsen geworden sind.“
Sie stellten ihre Gläser ab und rutschten zu den Klängen von ‚Julia‘ langsam eine Etage tiefer vom Sofa auf den Teppich. Martin schoss noch kurz durch den Kopf, dass er schon längst mal wieder seine Wohnung hätte durchsaugen können; dann war er nur noch Verlangen; sie hatten sich die Kleider förmlich vom Leib gerissen; wie bei Nick Hornby hatte es dabei kleine Unfälle gegeben: Eines seiner Hosenbeine hatte sich als ziemlich störrisch erwiesen, aus Juliettas Jeans hatte sich ein beachtlicher Haufen Münzgeld ergossen und ein Weinglas war ihrer Ungeduld zum Opfer gefallen. Der vorläufige Höhepunkt war für Martin, als Julietta ihm kurz den Rücken zuwandte, um ihm damit zu signalisieren, er solle jetzt ihren BH öffnen. Fast glaubte sich Martin in einem Film, so unwirklich erschien ihm das Geschehen. Vielleicht hatte er am Abend ja aus unerfindlichen Gründen nicht vor seinem üblichen Programmkino in der Schlange gestanden, sondern war in irgend so ein magisches Kino hineingeraten in dem man dann selbst Teil eines Films wurde, der einen zum Hauptakteur erkoren hatte und das eigene ungelebte Leben inszenierte, mit all den Wünschen und Fantasien, die man jemals in sich getragen hatte. Eine schöne aber auch ein wenig beängstigende Vorstellung, wahrscheinlich zu großen Teilen dem Alkohol geschuldet.
Irgendwann wusste Martin nicht mehr genau zu sagen, bis wohin er reichte und wo Julietta anfing; ihre Körper rangen miteinander, oben und unten gerieten durcheinander; Martin wusste nicht genau zu sagen, wie oft die Playlist durchgelaufen war; in ihrem Liebesspiel hatte sich aber unwillkürlich ein Rhythmus ergeben – jedesmal wenn ‚Julia‘ erklang, lösten sie sich voneinander, prosteten sich lachend zu, bevor sie dann mit leidenschaftlichen Küssen ihr Liebesspiel fortsetzten.
Es konnte nur so sein, dass Martin tatsächlich zu einem Akteur seiner Träume in einem magischen Kino geworden war; anders war es nicht zu erklären, dass sie erst voneinander ließen, als die Morgensonne den Himmel rot färbte.
Julietta hatte auf einem letzten Glas Wein bestanden, bevor sie sich bereit erklärte, noch eine Stunde an seiner Seite zu schlummern.
Martin erwachte mit dem Gefühl, nur kurz die Augen geschlossen zu haben. Er hörte die Dusche in seinem Bad, was ihm bestätigte, dass Julietta wohl mehr als nur ein Traum war. Den endgültigen Beweis erhielt er, als sie ihm die Bettdecke wegriss und sich tropfnass auf ihn warf – und ihm mit den Worten „Nur damit du mich bis heute Abend nicht vergisst!“ einen durchaus schmerzhaften Biss in den linken Oberarm verpasste.
Er hatte ihr noch einen Kaffee machen wollen, aber in Sekundenschnelle hatte Julietta ihre Klamotten zusammengesucht, war von jetzt auf gleich komplett angekleidet, drückte ihm noch einen intensiven Kuss auf die Lippen und war verschwunden.
Martin fühlte sich noch ein wenig zerschlagen, immerhin hatten sie am Vorabend zusammen drei Flaschen Wein geleert, und er war auch ziemlich verwundert darüber, wie fit Julietta am Morgen gewesen war.
Er würde heute später ins Büro gehen – die angenehme Seite der Selbständigkeit. Zwar spürte sein Körper Julietta irgendwie immer noch, auch hatte er noch ihren Duft in der Nase, zudem lag auf dem Küchentisch ein Zettel, auf dem sie ihre Telefonnummer notiert hatte, doch mit jeder Minute schien Martin das in den letzten Stunden erlebte zunehmend zu verschwimmen.
Sein Tag hatte sich unglaublich in die Länge gezogen, was vielleicht auch daran lag, dass er sich nicht richtig konzentrieren konnte; andauernd verhedderten sich seine Gedanken und immer wieder war er aufgestanden, um sich irgendetwas aus der Küche zu holen. Die anderen hatten ihn schon ein wenig seltsam angeschaut; er hatte es aber gar nicht erst zu der vorhersehbaren Frage, was denn heute mit ihm los sei, kommen lassen und war um einiges früher als sonst gegangen.
Nach einer ausgiebigen Dusche hatte er dann versucht Julietta zu erreichen, allerdings ohne Glück: Entweder es drang das Besetztzeichen an sein Ohr oder es tutete endlos. Als er sich dann gegen einundzwanzig Uhr damit abgefunden hatte, den heutigen Abend wohl wie gewohnt alleine zu verbringen, da meldete sein Smartphone eine neue Kurznachricht. Er hatte die Nummer erst nicht zuordnen können, weil sie wohl noch nicht in seinem Telefonbuch abgespeichert war, aber bereits nach den ersten Worten war ihm klar, dass es eine Nachricht von Julietta war: „Bin mit ein paar Leuten im Climax – komm doch auch vorbei!!! XOO“
Martins erster Impuls war, beleidigt zu sein. In seiner Fantasie hatten sie noch viele Abende - und vor allem auch die Nächte – ganz für sich und nur zu zweit miteinander verbracht; erst nach Wochen hätten sie wieder Kontakt zur Mitwelt aufgenommen und allen wäre dann klar gewesen, dass sie ein Paar waren, dass sich lange gesucht und endlich doch gefunden hatte. Natürlich würde er ins Climax gehen, um Julietta zu treffen; er fühlte sich auch ein wenig unter Zugzwang, war es doch nun an ihm, Julietta sein über einen One-Night-Stand hinausgehendes Interesse zu beweisen. Er hatte beschlossen, nicht länger beleidigt zu sein und stattdessen noch eine Flasche Wein für später kalt zu stellen.
Ein schaler Geschmack von Enttäuschung war allerdings geblieben, als Martin das Climax betrat; er spürte eine leichte Verkrampfung, fühlte sich unwohl in seiner Haut; fing an, sich selbst zu beobachten, wollte ganz entspannt und wie selbstverständlich auf den Tisch zusteuern, an dem er Julietta inmitten von drei lachenden Männern entdeckt hatte. In ihm tobten zwei widerstreitende Impulse – zum einen wäre er am liebsten geflüchtet, um sich vor der Welt zu verstecken und zum anderen wollte er das Männer-Rudel in die Flucht schlagen und die eroberte Julietta zu sich nach Hause verschleppen und gefangen halten, bis sie begriffen hatte, dass er grundsätzlich niemand anderen neben sich duldete.
„Hey Martin – schön, dass du noch gekommen bist.“ Julietta war aufgestanden und hatte ihn kurz wie einen alten Bekannten gedrückt; seinem Kussversuch war sie ausgewichen. „Ein alter Schulfreund – gestern vorm Kino wiedergetroffen; schon damals immer auf der Suche nach dem tiefen Sinn und deshalb den anderen ständig um Längen voraus, in Liebesdingen aber ziemlich hinterher…; und wie der Zufall es so wollte…; na ja, ihr seht ja; hier ist er!“ Die drei Männer lachten herzhaft in Juliettas Richtung. Das Gefühl von damals – nicht dazuzugehören – drohte von Martin Besitz zu ergreifen. Er biss gedanklich auf eine Chilischote – eine hilfreiche Strategie gegen unerwünschte Gedanken und Emotionen – und bestellte sich einen Weißwein; alle anderen hatten ein Bier vor sich stehen.
Er hatte sich halbwegs an den belanglosen Gesprächen beteiligt und sich ständig selbst ermahnt, seine Erwartungen an Julietta auszubremsen. Auch war er nicht wirklich interessiert zu erfahren, wer die anderen waren und wie ihr Verhältnis zu Julietta war; als dann zu fortgeschrittener Stunde noch auf Tequila umgestiegen wurde, beschloss Martin, es bei einem letzten Glas Weißwein zu belassen.
Kurz nach Mitternacht hatte man noch vor der Kneipe gestanden; und obwohl sich in ihm alles sperrte, hatte er sich an dem nicht enden wollenden Reigen von Verabschiedungsumarmungen beteiligt und halbherzig zugestimmt, als man beschloss, den Abend unbedingt bald zu wiederholen.
Das Männer-Rudel hatte sich ein Taxi bestellt. Auf die Frage, ob sie nicht mitfahren wolle, hatte Julietta lediglich erwidert „Ich hab’s ja nicht so weit; mein kleiner Held, der Sinnsucher, wird mich bis nach Hause begleiten und dann brav in sein eigenes Bettchen schlüpfen. Macht’s gut Jungs, bis bald!“ Juliettas Worte und ihre inzwischen alkoholbedingt etwas verwaschene Sprache sorgten dafür, dass sich in Martins Lendengegend alles zusammenzog. Als das Taxi außer Sichtweite war, hakte Julietta sich bei ihm unter.
„Hast du noch einen Wein im Kühlschrank?“ Martin versuchte, zu verstehen, war hier gerade passierte, hatte aber keine Antwort verfügbar. In seiner Wohnung angekommen, war Julietta sofort in die Küche gegangen, stand dann grinsend vor ihm. „Wo hast du die Gläser?“ Martin hatte eigentlich genug getrunken, kümmerte sich aber Julietta zu Gefallen um die Weingläser, während sie es sich auf seinem Sofa bequem machte. Als er in einer knappen Minute zurückgekehrte, hatte Julietta in die liegende Position gewechselt und war bereits eingeschlafen.
Als Martin sie dann so anschaute, konnte er beobachten, wie Julietta der Speichel aus dem leicht geöffneten Mund lief. Der gestrige Abend schien Jahrzehnte her zu sein. Wer war dieser Mensch ‚Julietta‘? War er eigentlich verliebt in Julietta oder war es für ihn nur eine Art Genugtuung, endlich der Frau nahe gewesen zu sein, die für ihn zu Schulzeiten unerreichbar gewesen war? Und wie sah es eigentlich bei Julietta aus? Was bedeutete er ihr eigentlich? Gehörte er nurmehr als Sonderling zu ihrer Staffage, die sie benötigte, um sich selbst zu bestätigen? Als ein weiteres Objekt in ihrer Sammlung?
Und wenn es sich denn bei jedem von ihnen beiden eigentlich nur um die eigene Person drehte, was wollte man dann eigentlich voneinander? Was wollte man dann, außer sich aneinander abzuarbeiten; vielleicht war es auch die Angst, sich selbst zu begegnen, sich selbst eines Tages von Angesicht zu Angesicht sagen zu müssen „Ja, der bin ich.“ Vielleicht war man ja gar nicht auf der Suche nach einem Liebessubjekt, sondern vielmehr auf der Flucht vor sich selbst… und machte den anderen so zum Liebesobjekt. Abgehobene Gedanken.
Juliettas Atmen hatte sich mittlerweile zu einem leichten Schnarchen gewandelt. Sie kam Martin fremd und entzaubert vor; auch fragte er sich, ob Julietta wohl jeden Abend soviel trank, aber das war schließlich nicht sein Problem, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach ihre eigene Art mit dem, was man gemeinhin ‚Leben‘ nannte zurecht zu kommen. Er merkte von Minute zu Minute mehr, wie sehr er sein eigenes Leben mochte. In seiner Begegnung mit Julietta war ihm klar geworden, dass er schon lange nicht mehr der Martin aus der Schulzeit war, dass er seine Autonomie schätzte und auch nicht irgendwie außerhalb stand und nur sehnsuchtsvoll die Leben der anderen beobachtete, selbst aber passiv blieb. „Ich danke dir, Julietta, für diese guten Gedanken.“ flüsterte Martin in die fortgeschrittene Nacht.
Er stellte die entkorkte Weinflasche zurück in den Kühlschrank, bereitete sich einen Kaffee zu und legte noch einmal ‚Julia‘ von den Beatles auf.
Er würde früh ins Büro fahren; Julietta würde ihren Rausch ausschlafen und nach dem Aufwachen seinen Zettel lesen:
„Guten Morgen, liebe Julietta, liebe July, liebe Julia, liebe Juliet – oder wer auch immer du sein willst! Bin ins Büro; mach dir bitte einen Kaffee. Warte nicht auf mich. Ich danke dir für den ersten Abend und für die erste Nacht, die ich mit dir verbringen durfte. Es war wirklich schön! Aber lass uns in unsere eigenen Leben zurückkehren. Wer weiß, vielleicht treffen wir uns irgendwann mal wieder in einer Warteschlange vor irgendeinem Kino oder auch sonstwo. Alles Liebe, Martin.“
Juliettas Playlist im Internet: https://open.spotify.com/playlist/0aO8WZItC3SblCEi14CF94?si=VM76NLkyQHiE6URR1axcVg


Eigenliebe

Es ist nicht immer so, dass der Mensch sich nicht selbst liebt, ganz im Gegenteil.
Es ist die Schwermut, die sich in euren Augen widerspiegelt,
die darauf basiert, dass jener Mensch von einem anderen Menschen genauso geliebt zu werden suchtet,
wie er sich eben selbst liebt!
Man sollte nicht oberflächlich über eines Menschen Worte und Taten urteilen!
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Mich langweilt es, mir selbst genug zu sein. Mich selber toll zu finden. Mich zu lieben.
Autorin Elena Ratzlaff




Jahresanfang

Weit entfernt sich das begonnene Jahr
Da sind die Jubiläen
Die keine sind
In den Taschen die Trophäen
Der Sand der rinnt
Da ein paar Worte
Hier eine Tat
Besuch der alten Orte Auf ausgetretenem Pfad
Ein Druck der Hände
Ein Lippengruß
Durch rissige Wände
Erst dann Genuss
Auf dem Kissen dein Haar
Und weit entfernt sich das begonnene Jahr

Autor: Frieder Döring

Der Avatar

»Schon wieder Freitag!«, seufzt Almut, während sie den Einkauf in den Kühlschrank räumt. Dabei wird ihr bewusst, dass auch diese Woche wieder einfach so vergangen war und in ihrer Erinnerung keine besonderen Spuren hinterlassen hat.
OK, am Wochenende waren sie und Bert wieder einmal um den See gewandert und sind wieder einmal im „Schlösschen“ eingekehrt und haben dort wieder einmal zu Abend gegessen. Aber das haben sie schon so oft gemacht, dass es mittlerweile zur ihrer Eheroutine dazugehört.
»Eheroutine, das hört sich genauso wie Ehepflichten an«, wiederholt Almut ironisch in Gedanken das Wort und muss dabei an den kommenden Abend denken.
Früher, als sie noch keine Kinder hatten, alberten sie mit solchen Begriffen herum und gaben damit sogar vor den noch unverheirateten Paaren an. Bis sie so nach und nach von der Realität eingeholt wurden.
Am darauffolgenden Montag, Bert war schon seit einer ganzen Weile zum Büro unterwegs, klingelt es an der Türe. Besuch oder eine Lieferung hat Almut nicht erwartet und rannte daher wie immer in einer verblichenen Jogginghose und einem ausgeleiertem T-Shirt herum.
Es klingelt wieder. Etwas unwillig öffnet Almut die Türe und sieht in das strahlende Lächeln ihrer Freundin Emelie, die ihr zwei Kisten mit Stiefmütterchen entgegen streckt.
»Emelie, Du?«, Almut zeigt entschuldigend auf ihr Outfit. »Ich habe nicht mit einem Besuch gerechnet«.
»Na und?« antwortet Emelie und zieht dabei amüsiert ihre Augenbrauen hoch. »Wo darf ich die Stiefmütterchen hinstellen? Ich habe viel zu viel gekauft und hoffe, dass du im Garten noch eine Lücke für sie hast.«
Almut Garten ist nicht groß, aber gemeinsam fanden sie dennoch sonnigen Platz für die überschüssigen Blumen. Anschließend setzte Emelie sie so dicht an dicht in die Erde, dass ihre Blüten sich wie zu einem bunten Teppich vereinten.
»Das sieht einfach toll aus!«, freut sich Almut und rückt Tisch und Stühle auf der Terrasse zurecht.
»Komm! - Du setzt dich jetzt hier hin, damit du dein Werk genießen kannst, und ich mache uns einen Tee.«
Es war nicht nur dem anregenden Tee geschuldet, dass Emelie lebhaft von ihrem Mann und den gemeinsamen Unternehmungen erzählte, während Almut immer schweigsamer wurde.
Emelie runzelt die kritisch ihre Stirn. »Sag mal, was macht ihr denn so? Du sagst ja gar nichts.«
Almut sieht ihre Freundin einige Sekunden nachdenklich schweigend an, nimmt einen Schluck aus ihrer Tasse und atmet tief ein.
»Ach Emelie, - wir kennen nun uns schon fast ein Leben lang. Weißt du, wenn ich dich so erzählen höre, komme ich mir wie schon gestorben vor.«
Emelie sieht ihr Freundin erschrocken an. »Hab ich was falsches gesagt?«
»Nein, Nein«, beeilt sich Almut zu sagen, »es ist … , ihr macht so viel Schönes, und bei uns - passiert nichts.«
»Nichts? Wie meinst du das?«
»Du weißt schon. Und das Eine hängt mit dem Anderem zusammen. Wir funktionieren nur noch. Was Neues hat in unser Eheroutine keinen Platz mehr.«
Emelie sieht ihre Freundin ernst an. »Mit diesem Problem bist nicht alleine. Hast du schon mal danach gegoogelt?«
»Ich und Internet?«, winkt Almut abfällig ab. »Wie soll ausgerechnet mir das Internet dabei helfen?«
»Dann such mal nach Talaman. Du weißt schon, vielleicht kann er dir helfen.«
Die Stiefmütterchen waren schon lange verblüht und durch Petunien ersetzt worden, ehe sich Amelie und Almut unter einem Sonnenschirm auf der Terrasse wiedersehen.
»Das ist aber ein hübsches Kleid!«, bemerkt Emelie Almuts sommerliches Outfit.
»Bert findet es auch«, antwortet Almut lächelnd, »Tee?«.
»Gerne. - Im Ernst, redet dein Mann bei deiner Garderobe etwa mit?«
»Ja, und er hat einen richtig guten Geschmack!«
»Wenn ich an unser letztes Treffen im Frühling denke. Da klang es anders!«
»Das ist lange her!«
»Wie schön, - was habt ihr denn gemacht?«
»Wir nichts!«, antwortet Almut mit einem hintergründigen Lächeln. »Ich hab mich mal mit Talaman unterhalten.«
»Ach, und?«
»Weißt du, nach unendlich langer Zeit bin ich mal nach meinen Wünschen gefragt worden.«
Emelie hat dem nichts hinzuzufügen und sieht ihre Freundin zustimmend nickend lächelnd an.
Almut rückt näher zu ihr heran. »Es gibt nur ein klitzekleines Problem«, flüstert sie.
»Das wäre?«
»Alles ist gut. So wie früher. Nur wenn ich mit Bert zusammen bin, muss ich immer wieder an Talaman denken. Obwohl er als Avatar nur virtuell existiert, werde ich ihn einfach nicht mehr los.«
Emelie legt ihren Arm um ihre Freundin und zieht sie ein wenig zu sich heran. »Da bin ich mir ganz sicher«, flüstert sie ihr ins Ohr, »jede Frau hat einen Talaman.«

Autor: Dieter Drechsler



Glück ist

morgens
über baumwipfeln die sonne AUFGEHEN sehen
VERTRAUEN in den augen eines kindes erblicken
die schnauze meines hundes in der HAND spüren
eine köstlichkeit auf der zunge ZERGEHEN lassen
den DUFT von vanille auf der haut riechen
plötzlich
vor lachen SCHIER bersten können
arm in arm MUND an mund abends einschlafen

Autorin: Hedwig Bäte


Liebesunglück

Sie hatten sich bei dem Fest gegenüber gesessen, nicht gewusst, dass der andere eingeladen war.
Wie es sich gebührte, saßen sie bei dem Anlass neben ihren Lebenspartnern, er neben seiner Gefährtin, sie neben ihrem Gefährten. Man hatte sich entschieden, weil es im Leben irgendwann eine Verbindlichkeit braucht. Das ewige Suchen, dann jemanden finden, umkreisen und umwerben, das konnten nur Phasen im Leben sein aber nicht das Leben selbst. Jetzt hatte man Beständigkeit mit dem festen Partner, ward stets als Paar eingeladen und hatte schon seit Jahren eine gewisse Festroutine entwickelt - unverbindliche Fröhlichkeit war auf Kommando verfügbar, genau wie man inzwischen über ein belangloses Themen-Potpourrie für viele Gelegenheiten verfügte. Die Kleiderwahl des Partners für derartige Anlässe wurde schon lange nicht mehr ernsthaft kommentiert.
Und jetzt das – sie hatten versucht, zu vergessen und konnten nun, gegenübersitzend, den Blicken des anderen kaum ausweichen. Wie lange hatten sie sich nicht gesehen? Vielleicht sieben Jahre - keine ganz so lange Zeit. Es hatte damals nicht funktioniert mit ihnen - und das obwohl, oder vielleicht gerade weil, es da eine Wildheit gab; etwas, das sich nicht bändigen ließ; etwas, dass ihnen einen Alltag vollkommen unmöglich machte; etwas, das sie erhitzte und sie überdrehen ließ; fast schon fürchteten sie, nicht nur verrückt nacheinander zu sein, sondern regelrecht um ihren Verstand bangen zu müssen. Es hatte sie zerrissen und nach nur drei Monaten manischen Miteinanders war es dann vorbei. Zu sehr hatte es an den Kräften gezehrt; sie hatten sich dann leer gefühlt und nicht gewusst, wie sie sich wieder hätten auffüllen können. Die Depression kam dann mit der Frage, wie es denn weitergehen solle; es hatte sich keiner von ihnen beiden festlegen wollen, hatte doch erst die große Freiheit eine derartige Intensität zwischen ihnen entzündet. Und Entscheidungen bedeuteten das Ende der Freiheit.
Was ihnen geblieben war, das war die endlos große, heimliche Sehnsucht nach dem anderen, nie und niemandem erzählt, weil unerzählbar - die Welt hätte es wohl nicht verstanden.
Die Zeit kann Wunden nicht heilen und mit der Erinnerung war auch der Schmerz geblieben und mit dem Schmerz die Frage, ob es nicht doch einen Weg für sie hätte geben können.
Und jetzt saßen sie hier einander gegenüber, gepflegte Konversation betreibend, und sahen den Weg, den der andere gewählt hatte. Jeder für sich wusste, dass der Weg ein vernünftiger gewesen war - es war nicht so, dass man seine Entscheidung bereut hätte, aber das Manische, die Liebesexplosionen, das Unersättliche - das war aus ihren Leben verschwunden.
Ein Blick direkt zu Beginn des Festes hatte schon ausgereicht, so vertraut waren sie wohl noch miteinander - sie hatten sich kurz verständigt, nichts davon zu offenbaren, dass sie sich von früher her kannten. Das war auch damals schon ihr wunderbares Spiel gewesen, ihr Geheimnis vor der Welt.
Wohl war dann am Ende der Händedruck zur Verabschiedung etwas länger ausgefallen als nötig. Eine letzte Berührung, ein letzter Blick.
Vor dem Schlafengehen mit dem eigenen Gefährten würde man den Abend mit seinen Gästen noch ausgiebig analysieren und zerpflücken und sich ein wenig rechtfertigen müssen, warum man denn so ungewohnt aufgedreht gewesen sei.
Dabei wäre man noch gerne für ein halbes Stündchen mit sich und einem letzten Gläschen allein gewesen.
Autor: Michael Blum


Das Wasserbett

Da hätte endlich mal ein Wort
Zu einigen der losen Enden
Dieses zerzausten Knäuls
Bei dir bei mir gesagt sein sollen
Und waren schon dabei zu schmollen
Über´s Schicksal und die böse Welt Jeder auf seine Weise
Du ganz leise Stumm fast pflanzengleich
Ich mehr zwitschernd schwätzend
Wie die freche Amsel
Die da dauernd diesen Sommerabendhimmel
Kreuzte hinter Spinnen her
Welche oben zwischen Wipfeln turnten
Fadenlos zu schweben schienen
Als die Dämmerung ihr Weben
Ihre Räuberarbeit zu dem Reigen machte
Den sich jeder von uns in sein Leben dachte
Als ein Sinngefüge einen Tanz vielleicht
Den dann gleich die Hände übernahmen
Von den Sinnen kamen ohne Worte die Signale
Ohne Text nur Melodien
War ganz nett da auf dem Wasserbett
Wo die Träume leicht gediehen
Als die Worte uns verlassen hatten

Autor: Frieder Döring

Erlesen

Jeder Tag gleicht dem nächsten, mein Körper schwebt auf einer Umlaufbahn. Jeder Tag beginnt so jung, stirbt so schnell und ich, ich existiere bloß. Ich schwimme zwischen tausenden Atomen, die zu aufsteigenden Molekülen mutieren. Ich fühle mich hier unten nicht wohl, hab Ambitionen doch mir fehlt der Weg. Hab keine Ahnung wo die Treppe ist, hab keine Verbindung zum Strom, ich bin bloß ein kleines Atom.
Ich will mich verbinden, mit irgendwem, doch weiß nicht wie, mir fehlt die Energie. Ich habe viel zu geben, doch weiß nicht an wen, versuche immer noch mich aufzuheben. Ein befremdendes Gefühl, unter Menschen zu sein, welche doch alle gleich zu sein scheinen, wie ich. Doch ich will nur eins: Heim. Ankommen. Möchte in den Arm genommen werden, will zu jemandem gehören, will die magischen drei Worte hören, will Traurigkeit und Einsamkeit zerstören. Weiß nicht wie zu re- und zu agieren, hab keine Ahnung, an wen oder was mich zu orientieren, will mich verlieben, will mich vergeben und will anfangen zu leben. Ich suche sie und verfluche sie. Hoffnung, du lässt mich im Stich. In all den vielen Gesichtern sehe ich dich nicht. Fühl mich in fremden Augen nicht wohl, obwohl ich wissen will, was dahinter steckt. Doch ich bin bloß ein kleines Atom, noch unentdeckt.
Bin ich wirklich so unsichtbar? Bleiben meine Wünsche, für mich, unerreichbar? Ich fühl mich verloren, fühl mich vergessen. Bin besessen vom Wunsch auszubrechen. Will nicht an Einsamkeit zerbrechen, will mich an Zärtlichkeit sattessen, bin besessen vom Wunsch, diese zu teilen, hab keine Lust mehr, mich zu langweilen. Ich habe verlernt zu küssen, hab keine Lust mehr, diese vermissen zu müssen, will leidenschaftlichen Sex mit Gefühl und Vertrauen, brauche jemandem, zum Aufbauen. Will nehmen und geben dürfen, ohne Angst vor Vorwürfen, will erzählen können, was mich bewegt, was mich verletzt, will geschätzt werden.
Jeder Tag beginnt so jung, stirbt so schnell und ich, ich werde immer älter und älter und älter und immer älter. Ich brauche eine Bucht, brauche Zuflucht, brauche Sehnsucht, brauche eine Wucht von Verlegenheit, von Vollkommenheit. Durch mich und durch dich. Ich will nicht mehr alleine sein, ich will nicht mehr glücklich sein, nur zum Schein, ich will nicht mehr immer nur hoffen, will offen sein, für schöne Gefühle. Ich will nicht mehr warten müssen, will schwimmen in großen Ergüssen aus alledem, das mir noch fehlt. Ich will nicht mehr, mich so langweilen, will meine ablaufende Zeit, mit jemandem teilen. Ich will nicht mehr, ich kann nicht mehr. Ich. Fühle. mich. So. einsam!
Und sei du mal ganz ehrlich… Geht es dir nicht auch manchmal so? Kennst du die Einsamkeit unter glücklichen Leuten? Und möchtest du nicht auch jemandem etwas bedeuten? Könntest du nicht auch an diesem Gefühl zerbrechen? Und kannst du gönnen und wünschen, wenn andere von „Liebe“ sprechen?
Für dich und mich, ist sie ein Tabuthema, dabei wäre es mit ihr viel angenehmer. Und du Sagst: „Ja! Ich vermisse sie auch. Ja, ich brauche sie auch. Und ja, es tut weh, ohne sie.“ Doch sie will nicht zu uns, sie gibt um uns einen Strunz, sie lacht uns aus macht sich ein ewiges Spiel daraus und wegen ihrer Ignoranz gehen wir ebenfalls immer mehr auf Distanz. Suchen Ablenkung in unüblichen Dingen und Taten, haben uns selbst jedes Mal damit verraten und können es trotzdem nicht lassen.
Menschen. Überall Menschen. Wir suchen sie und verfluchen sie. Hoffnung, du lässt uns im Stich. In all den vielen Gesichtern sehen wir dich nicht. Wo steckst du nur? Von Liebe, immer noch keine Spur. Diese Fragen, sie packen uns am Kragen, wir werden zerdrückt und alles, woran wir uns klammern, wie verrückt, sind unsere Träume. Und wir warten, Tag für Tag, Nacht für Nacht. Träumen von Zweisamkeit, hoffen auf die nächste Gelegenheit, sie zu finden, doch es kostet Mut, sich zu überwinden und wieder raus zu gehen.
Menschen. Überall Menschen. Ich. Fühle. Mich. So. Einsam!
Und zwischen all den tanzenden Herzen, zwischen all den leuchtenden Augen, welche an einem saugen und doch nichts taugen, stehe ich. Stehst du. Da stehen wir. Alleine. Zu oft enttäuscht, zu oft verletzt, die Liebe, sie wurde durch Alkohol ersetzt. Bässe dröhnen, Alkohol in Gläsern, Alkohol auf dem Boden, Alkohol in Köpfen. Und zwischen alledem, fange ich an zu tanzen. Zwischen alledem nutzt du deine Chancen und ich lasse mich darauf ein. Bin für diese Nacht einfach Dein und wir vergessen alles für wenige Stunden. Sind ungebunden für wenige Minuten, bis wir am nächsten Morgen an noch mehr Einsamkeit verbluten.
Wir wollen uns trauen etwas aufzubauen, wollen uns in anderen Augen spiegeln, denjenigen für uns besiegeln und wollen als Moleküle aufsteigen.
Doch wir sind bloß kleine Atome, die dazu neigen, unentdeckt zu bleiben. Wir wollen geladen sein, sind stattdessen immer allein. Wir warten auf unsere Zeit, sind schon lange für sie bereit. Und wir warten und warten. Tag für Tag, Nacht für Nacht und brauchen jemanden, der über uns wacht. Ja, unsere Zeit wird kommen, wir werden irgendwann wahrgenommen. Ja, auch du musst nicht mehr lange warten, denn die Karten werden neu gemischt, uns erwarten noch die schönsten Zeiten. Und ja, wir sind seltsame Wesen. Aber auch wir sind von Liebe erlesen.

Autorin: Elena Ratzlaff


Datingportal

Ein Forscher im Laboratorium steht, und seine Welt nicht mehr versteht.
Denn auf seinem Bildschirm flimmern Daten,
die ihm zu einem Verhältnis mit der Ute raten.
Aber diese wies ihn kühl zurück: Such woanders dein Computerglück!

Wenn auch dein Algorithmus mich erkürte,
ahnt er nicht, was ich im Herzen spüre.
Ich wünsche mir Liebe, für die Ewigkeit,
denn Liebe schenkt der Seele Geborgenheit.


Autor: Dieter Drechsler


Muttermal

Eine Erklärung hatte er nicht, aber sie hatte ihn recht gewaltig in ihren Bann gezogen. Und hätte sie nicht dieses Muttermal links oberhalb ihrer Lippen, sie wäre ihm wohl kaum aufgefallen – und das trotz des leuchtend roten Lippenstiftes, den sie alle Tage auftrug und der einen starken Kontrast zu ihrem blassen Teint bildete.
Sie – und genau genommen ihr Muttermal – war der Grund dafür, dass er zweimal wöchentlich das Café aufsuchte, in welchem sie bediente. Während der drei Kaffee-Crema, die er zu sich nahm, saß er vor seinem aufgeklappten Notebook, allerdings ohne wirklich zu arbeiten; und das nicht, weil er unzureichend zu tun hätte, sondern ganz einfach, weil er stark beeinträchtigt war in seiner Konzentration.
Nie setzte er sich abseits, stets in die Nähe voll besetzter Tische. So stellte er sicher, dass sie häufig in seine Nähe kommen und er ihr Muttermal betrachten könnte. Er hatte sich schon gefragt, ob sie wohl des morgens, bevor sie das Haus verließ, mit einem extra Tupfer Schwarz aus irgendeiner Wundertube die Markantheit des Mals betonte.
Ja, er hatte sich bereits Zärtlichkeiten mit ihr vorgestellt, hatte mit seinem Mund und seiner Zunge zunächst ihre Lippen und zur Krönung dann ihr Muttermal erkundet und war dabei in höchste Aufregung geraten. Diese Vorstellung war er, seit sie ihm das erste Mal gekommen war, nicht mehr los geworden.
Er musste etwas tun – unbedingt – alles andere würde ihn in den Wahnsinn treiben; sie anzusprechen würde allerdings nicht in Frage kommen, hierzu fehlte ihm schlicht der Mut; auch würde sie wohl kaum von sich aus den Kontakt zu ihm suchen.
Aber gänzlich von ihr zu lassen - das wäre schlichtweg unvorstellbar!
Auch wenn er sie nicht erreichte, so war er ihr doch immer nah!
Und niemand, der ihn beobachtete, würde auch nur erahnen, wofür die helle Marzipantorte mit Himbeermus-Füllung, garniert mit einer Mokkabohne, stand, für deren Genuss er sich zweimal wöchentlich so viel Zeit ließ, sich zuerst in kleinsten Happen die süße Backware auf der Zunge zergehen lassend, bevor er dann mit der Mokkabohne den krönenden Abschluss zelebrierte.

Autor: Michael Blum

Als uns die Mondin

Auf die Schliche kam
Waren wir gerade dabei
Uns zu erkennen
Im Dunkeln dieser Winternacht
Sahen die Hände manches
Mehr als wir gedacht
Dass es zu sehen gäbe Mondin kam und schaute uns
Blinkernd über Gliedern
Hob der dunklen Decke Zipfel
Glitzerte auf nackter Haut
Zwinkernd mit gesenkten Lidern
Lichreflexend uns verhexend
Als wir uns verkriechen suchten
Ineinander eng und fest
Tasteten die Schimmerfinger
Uns in jeder Biegung ab
Bis uns wohlig dieses Streicheln
Kühlte überhitztes Blut
Mondin bleib bist jetzt willkommen
Nichts mehr zu verbergen hier
Hast das in die Hand genommen
Mach nur weiter während wir
Liegend und genießend
Uns verwöhnen lassen
Von der Fülle zarter Lichter
Auf der hellbehauchten Haut
Als uns die Mondin
Auf die Schliche kam
Hat sie uns gleich getraut

Autor: Frieder Döring

Der Liebesrausch

Oh Gott – du bist in mein Leben gerauscht!
Und es war doch alles so schön einigermaßen in Ordnung!
Nicht das große Glück in der Totalen, wohl aber ein Stückchen davon, was ja weit besser ist als nichts. Eine schmale Spur Zufriedenheit, mal etwas weniger, zuweilen aber auch ein wenig mehr – mehr oder weniger halt.
Ich hatte mich so schön eingerichtet im Widerspruch: Hab ja genau so gut leben können, Basissicherheit; hin und wieder Glücksvorbereitung, man will ja schließlich noch was vom Leben, aber ohne die großen Entscheidungen, bloß kein „entweder – oder“; halt auf immer und ewig Glücksaspirant bleiben.
Und dann bist du einfach so in mein Leben gerauscht, hast alles durcheinander gebracht!
Wenn ich mich bei mir selbst für das Glück bewerben müsste – ich würde mich glatt durchfallen lassen, mir auch keine zweite Chance geben, hätte ich einfach nicht verdient. Können andere mehr mit anfangen, mit dem Glück.
Und dann rauschst du einfach so rein, bist wieder da, genau wie damals. Und das weiß ich ja noch ganz genau: Es ist kein Vorbeikommen an dir!
Der Rausch: mitgerissen sein und hinweg gefegt; ‚aus‘ der mittelmäßige Zukunftsplan; alles vergessen was zwischendurch war, das Zwischendurch war nur eine lange Pause; ohne Pause hätte der Rausch mich schließlich endgültig enterdet; alles löst sich auf; ich gebe mich hin, verliere mich, wo ich mich doch noch gar nicht ganz gefunden habe; eine Angst-Lust-Melange erfüllt mich.
Alles ist gut – oder wird gut – was aber nicht stimmt, wie ich weiß; ich kenne dich ja! Du ziehst mich rüber zu dir, kraftlos setze ich mich zur Wehr; ich blicke himmelwärts und fürchte den Sturz…
„Es ist was es ist, sagt die Liebe…“ – oder vielleicht doch nicht? War doch alles in Ordnung, in der Zwischenzeit, in meinem kleinen bescheidenen Leben.
Mein Herz hämmert, mein Atem rast, meine Knie zittern; in einem Höllentempo ziehen Bilder von damals an mir vorbei:
Der Anfang, der mich umgehauen hat, die Monate der Manie, je weniger wir schliefen, desto euphorischer waren wir geworden, die Tage hatten 36 Stunden, das ganze restliche Leben schien viel zu kurz für all unsere Pläne; wo war bloß in den Monaten die ganze Energie hergekommen, eine unerschöpfliche Quelle schien uns zu versorgen. Wir pflückten die Tage und waren traurig, nicht auch des Nachts im Traume beieinander sein zu können. Hoch waren wir geflogen, zu hoch vielleicht.
Irgendwann war es dann gekippt - wir hatten uns aneinander erschöpft und der Absturz war gekommen. Am Ende dann jeder für sich.
Wieder bist du nun in mein Leben gerauscht; ein gewaltiger Schwindel packt mich und lässt mich taumeln.
Im Innehalten voranzustürmen – das ist’s, wonach mir zumute.

Autor: Michael Blum