Detlev Neukirch
Detlev Neukirch, Jahrgang 1952, war Berufsoffizier bei der Luftwaffe. Er befasst sich seit vielen Jahren mit Literatur, Philosophie und Geschichte. Neben Reisebeschreibungen und Kurzgeschichten gehören Gedichte und Novellen zu seinem Repertoire. Zur Zeit arbeitet er an seinem ersten Roman. Veröffentlichung von satirischen Tagebuchblättern in "Landschaften des Lebens.
Carmen
Glaubst den Vogel du schon gefangen,
ein Flügelschlag, ein Augenblick,
er ist fort und du harrst mit Bangen,
eh du’s versiehst, ist er zurück.
Weit im Kreise siehst du ihn ziehen,
bald ist er fern, bald ist er nah.
Halt ihn fest und er wird entfliehen,
weichst du ihm aus, flugs ist er da!
Wie jedem bekannt ist, gibt
es Dinge, an die wir glauben, Dinge die wir wissen oder zu wissen
glauben, und Dinge, an die wir einfach glauben wollen, obwohl uns der
Verstand sagt, dass wir einer Illusion aufsitzen.
Aber was ist der Verstand schon wert, wenn uns die Phantasie auf Höhen trägt, wo rationales Denken
als Hindernis den Lauf der Handlung stört. Da mischen sich Fiktion und
Wirklichkeit und aus den Tiefen der Erinnerung ziehen plötzlich
Fragmente einer Handlung auf – hier nur ein Akkord, dort der Schnipsel
eines Bildes, vielleicht auch nur der Stein aus einem Mosaik – und weben
sich wie selbstverständlich in den Alltag ein, der wie im Rausch die
Sinne täuscht und ein Stück Leben komponiert, das sich nur uns selbst erschließt.
So sollten auch Sie sich
nicht sicher sein, wenn Sie mich die Gitterstäbe dieses Zaunes hier
umklammern sehen. Auch wenn ich noch so sehr daran rütteln mag: Ich will
nicht rein und Kanzler werden; auch sind wir ganz woanders hier und es
ist lediglich die Ungeduld, bis der Gong endlich ertönt und sich die
große Flügeltüre öffnet – und sie erscheint. Nur dafür bin ich
hergekommen. Als Universität getarnt liegt die Fabrik in der Calle San
Fernando hinter dicken Eisenstäben.
Ich aber weiß Bescheid.
„Kommt, macht Pause, ihr Mädchen, ihr habt es doch verdient. Eure Hände
sind ganz wund vom Rollen dieser groben Tabakblätter. Und, Carmen, meine
Teure, sei ganz beruhigt: diesmal bin ich da und steh’ dir bei.
Kommt, macht die Türen endlich auf und lasst das Stück beginnen“.
Wie eine Endlosschleife wiederholt die Ouvertüre sich in meinen Ohren. Ich will jetzt sehen, wie
es los- und weitergeht, obwohl ich doch die Handlung in allen
ihren Phasen kenne, jede Drehung, jeden Schritt, jedes Wort und
jede Zeile – bis ganz zum Schluss. Dann aber greif’ ich ein. Heute
stirbst du nicht, auch wenn den Gaffern dann das ganze Stück verdorben
ist. Die Meute wird uns hetzen, wir müssen schnell sein und die
Überraschung nutzen. Vorbei am Torre de oro, und dann über die Brücke
auf die andere Seite. Ich hab’ Freunde, die uns helfen, die halten
Pferde dort bereit.
Meine Frau stößt mich in die Seite und meint, wir hätten den grauen
Kasten jetzt genug beglotzt. Sie wollte noch auf
die Giralda steigen und dann zum Plaza de EspaHia, und so weiter, und so
weiter, die Zeit liefe uns langsam davon. Und dann sagt sie noch: „Ach,
übrigens, die Universität war früher eine Tabakfabrik. Merimée hat hier
seine Carmen-Novelle angesiedelt, aus der später die Grundlage für die
Opernhandlung wurde. Viele Touristen kommen vorbei und glauben, das
Ganze hätte sich hier wirklich abgespielt; witzig, oder?“
Und ich denke: „Mein Gott, sieht sie denn nichts, spürt sie nicht die Spannung? Hier spielt sich
gleich eine Tragödie ab und sie findet’s auch noch witzig! Obwohl, wenn
ich’s richtig bedenke, eine gewisse Komik ist ja nicht zu leugnen: Don
José glaubt, Carmen liebte ihn, das Publikum glaubt, Carmen liebt
Escamillo, und ich weiß: Alles nur gespielt, sie liebt nur mich!
Wirklich ? Das ist noch nicht das Ende der Geschichte...