Rainer Epbinder
Rainer Epbinder, Dr. phil., geboren 1951 in Gelsenkirchen. Studium der Politikwissenschaft, Skandinavistik und Sinologie in Stockholm, Peking und Bochum. Seit 20 Jahren nebenberuflich Autor von Satiren, Kurzkrimis, Kinder- und Liebesgeschichten für Tageszeitungen und Frauenzeitschriften. Lebt in Windhagen und München.
Der arme Herr Engelmann
Herr Engelmann war schon über fünfzig und immer noch ledig. Das schmerzte
ihn sehr. Dabei hatte er sich oft verliebt, war aber nie auf
Gegen liebe gestoßen. Sein neuer Schwarm hieß Frau Bertram, war
so um die vierzig, trug keinen Ehering und saß an der Kasse des
Supermarktes um die Ecke. Herr Engelmann kaufte dort gewöhnlich
einmal die Woche ein. Seit Frau Bertram jedoch an der Kasse saß,
kam er mindestens zweimal, oft sogar dreimal wöchentlich. „Guten
Tag, Frau Bertram.“ Am Anfang hatte sie immer mit ‚Guten Tag‘
geantwortet und dabei freundlich gelächelt, doch eines Tages
erwiderte sie: „Guten Tag, Herr Klein.“ „Ich bin nicht Herr
Klein, mein Name ist Engelmann.“ „Oh, entschuldigen Sie bitte,
aber Sie sehen dem Herrn Klein wirklich zum Verwechseln
ähnlich.“ Herr Engelmann hatte keine Ahnung, wer Herr Klein war,
aber wenigstens hatte Herr Klein unfreiwillig dafür gesorgt,
dass Herr Engelmann und Frau Bertram ein bisschen miteinander
ins Gespräch kamen. Zwei Tage vergingen und auch zwei Nächte, in
denen Herr Engelmann natürlich von Frau Bertram träumte: von
ihren langen rotblonden Haaren, den hübschen winzigen
Sommersprossen neben der Nase und diesem Lächeln, mit dem sie
ihn wie eine Fee verzaubert hatte. „Guten Tag, Frau Bertram.“
„Guten Tag, Herr Klein.“ Die Enttäuschung stand Herrn Engelmann
im Gesicht geschrieben. „Sie sehen ja ganz unglücklich aus“,
meinte Frau Bertram. „Es ist nur... Ich bin doch der Herr
Engelmann.“ „Ach Gott, habe ich Sie schon wieder verwechselt?
Das tut mir wirklich Leid. Diese Ähnlichkeit aber auch.“
Herr Engelmann fühlte sich gekränkt. Aus Protest mied er den
Supermarkt zwei volle Wochen lang, obwohl es ihm schwer fiel.
Dann benötigte er dringend Wurst und Käse. „Lange nicht gesehen, Herr
Klein.“ „Engelmann.“ „Aber ja doch, Herr Engelmann. Alles dauert seine
Zeit. Eines Tages werde ich mich bestimmt an Sie erinnern.“ Und wieder
dieses bezaubernde Lächeln. An jenem Tag trug sie einen himmelblauen
Pulli – Blau war die Lieblingsfarbe von Herrn Engelmann – und sie hatte
sich ganz dezent geschminkt, so wie Herr Engelmann das bei Frauen am
liebsten hatte. Und wieder fühlte er tausend Schmetterlinge im Bauch. Am
nächsten Morgen brauchte er ein paar Streichhölzer von der Sorte, wie
sie sich zuhauf bei Frau Bertram an der Kasse stapelten. Aber auf dem
Stuhl von Frau Bertram saß ein junges Mädchen mit Piercing-Schmuck in
den Augenbrauen. „Hat Frau Bertram heute frei?“ „Nein, die hat
gekündigt.“ „Das kann doch nicht wahr sein.“ „Ist es aber. Macht zwanzig
Cent.“ Viele Monate waren ins Land gegangen, als Herr Engelmann eines
Tages auf den Bus wartete, der ihn in die Nachbarstadt bringen sollte.
Schon von Weitem sah er sie. Sie ihn aber auch. „Hallo, Herr Engelmann.“
Sein Herz hüpfte. Sie hatte sich nach so langer Zeit an ihn erinnert.
Auf Anhieb. „Wie geht es Ihnen, Herr Engelmann?“ „Gut. Und Ihnen, Frau
Bertram?“ „Ach so. Übrigens...“ „Ja, bitte?“ „Ich wollte sagen, ich
heiße nicht mehr Bertram.“ „Nein?“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe
geheiratet.“ Sein Herz verkrampfte sich. „Ich bin jetzt Frau Klein.“